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Im Anwerbe-Seminar der „Letzten Generation“: Wie die Klima-Aktivisten Nachwuchs rekrutieren

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Von: Max Müller

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Wer wissen will, was die „Letzte Generation“ umtreibt, kann zweimal pro Woche per Zoom-Call in ihren Inner Circle einsteigen. Unser Redakteur war beim Anwerbe-Seminar dabei.

Köln – Den Straßenverkehr lahmlegen, Kunstwerke besudeln, Flughäfen entern: Die Debatte um die Aktionen der „Letzten Generation“ hört nicht auf. Was die wenigsten wissen: Zweimal in der Woche kann man sich selbst ein Bild machen. Dann laden die Klimaaktivisten zu einer Online-Videokonferenz ein.

Anschauen kann man sich das ja mal, dachte ich. Es geht immerhin ums große Ganze. Ich bin fest davon überzeugt, dass es schon zu spät ist und die Katastrophe so oder so kommt. Ich glaube nicht, dass die „Letzte Generation“ noch etwas bewegen wird. Wahrscheinlich bin ich mit meinem Nihilismus für jede politische Strömung uninteressant.

Die Termine finden immer donnerstags und sonntags statt. Ich bin an einem Donnerstag im November dabei. Der Kursleiter heißt Tim. Tim ist Mitte zwanzig, hat klischeehaft lange Haare und ist hauptberuflich Klimaaktivist bei der „Letzten Generation“. Zum Zoom-Call schalten sich Alte und Junge, Männer und Frauen aus teuren Altbau- oder günstigen Sozialwohnungen ein. Tim erzählt, dass zu Beginn dieser Zoom-Konferenzen oft nur eine Handvoll Menschen zugehört haben. Heute sind wir mehr als 50 im Seminar.

 Bild ist vom 12.12. und stammt von der Straßenblockade in Berlin, Westend
Wer ist hier radikal? © Letzte Generation

„Letzte Generation“: Endlich mal ein Vortrag mit Leidenschaft

45 Minuten dauert sein Vortrag. Tim spricht über Kipppunkte der Klimakatastrophe, das Absterben borealer Nadelwälder und Migrationsbewegungen in den globalen Norden. In der Conclusio stimmen die meisten überein: Die Welt von morgen wird bedrohlich, wenn jetzt nichts passiert. Am Ende bleibt bei mir ein Fakt besonders hängen: Alle Hamburger dürfen sich im Jahr 2045 auf ein Wetter wie im spanischen Pamplona „freuen“.

Tim redet frei, er kommt nicht einmal ins Stocken und stellt zu jeder Aussage eine Quelle in das Notizfeld. Und er hat etwas, das bei fast jedem Vortrag an deutschen Schulen und Universitäten fehlt: Leidenschaft. Ohne die würde es nicht gehen, denn Ziel der Konferenz ist es schließlich, neue Leute für die „Letzte Generation“ zu begeistern. Immer wieder verweist Tim auf eine Mailadresse, dorthin sollten sich alle wenden, die mitmachen wollen. Die Teilnahme an diesem Vortrag ist in der Logik der „Letzten Generation“ der erste Schritt. Danach folgt ein Aktionstraining. Man werde intensiv darauf vorbereitet, eine Straße zu blockieren. Wie kann man dann aufgebrachte Autofahrer besänftigen? Wie lässt sich Gewalt vorbeugen?

Nicht alle sind radikal bei der „Letzten Generation“

Eine junge Frau hebt virtuell ihre Hand. In einigen Monaten werde sie mit ihrem Studium fertig. Sie möchte aktiv werden, hat aber Angst vor einem Eintrag in ihr polizeiliches Führungszeugnis. Tim verweist auf das „Legal-Team“ und betont: Niemand werde gezwungen, illegale Sachen zu tun. Außerdem gebe es eine Reihe von Anwälten, die der „Letzten Generation“ helfen.

Längst nicht jeder Seminarteilnehmer ist radikal. Ein Mann zum Beispiel meldet sich und sagt, er kenne die Lösung. Also nicht er selbst, sondern ein Professor aus Potsdam. Die globale Erwärmung zu stoppen, funktioniere ohne radikales Umsteuern. Das habe der Forscher in einer Studie nachgewiesen. Tim kann seine Skepsis nicht verbergen, bittet aber freundlich darum, ihm das Dokument mal zu schicken. Ein anderer Mann schlägt vor, mit 100 km/h über die Autobahn zu fahren – und so den gesamten Verkehr zu drosseln. „Das machen wir schon – ist aber nicht spektakulär genug. Deswegen berichtet niemand darüber“, sagt Tim.

Hater im Zoom-Call: „Für euch würde ich nicht bremsen“

Die nächste Diskutantin will wissen, ob das mit dem Festkleben denn wirklich sein müsse. Dann entbrennt eine Debatte über die Wahl der Mittel. Tim erzählt, dass er früher auch versucht habe, auf herkömmlichem Wege etwas zu ändern: Petitionen unterschreiben, Demonstrationen organisieren und entsprechende Parteien wählen. Hat alles nichts gebracht, sagt Tim. Man kann sich dem Eindruck nicht erwehren: Im Umfeld der „Letzten Generation“ läuft vieles angepasster als gedacht – und harmloser als befürchtet. Es gibt einen Fundi- und einen Realo-Flügel. Tim ist Fundi.

Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Leute gefährlich sind. Auf keinen Fall so, wie sie gerade in der Öffentlichkeit dargestellt werden. Wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung durchsuchte die Polizei am Dienstag in ganz Deutschland Wohnungen von Mitgliedern der „Letzten Generation“. Nach den 90 Minuten Diskussion wirkt diese Annahme grotesk. Dazu kommt: Es sind die Klimaaktivisten, die sich in eine große Gefahr begeben. Tim erzählt, dass er schon oft körperliche Gewalt von aufgebrachten Autofahrern erlebt habe. Er mache das alles nicht gerne, aber in dem Fall sei die Sache größer als seine Person.

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Auch in diesem Seminar ist er vor seinen Hatern nicht geschützt. „Für euch würde ich nicht bremsen“, schreibt einer in den Chat. Einfach so. Jemand anderes äußert Gewaltfantasien. Tim sieht diese Nachrichten – und macht: nichts. Auch keiner der übrigen Teilnehmer geht darauf ein. Niemand lässt sich hier provozieren. Und irgendwann hören die Hassnachrichten einfach auf. Die Veranstaltung endet beseelt. Es sehe zwar nicht gut aus, aber aus jeder der 56 Kacheln trieft: Gemeinsam kriegen wir das noch hin.

Vielleicht überdenke ich meinen Nihilismus nochmal.

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