Rezession und Krise: 2023 - ein Jahr zum Vergessen?

Die deutsche Wirtschaft steht vor der Rezession. Im kommenden Jahr werde die Wirtschaftsleistung hierzuland um 1,3 Prozent schrumpfen, erwartet der Chef-Volkswirt der Allianz, Ludovic Subran. „Das nächste Jahr dürfte für viele Haushalte und Unternehmen in wirtschaftlicher Hinsicht ein Jahr zum Vergessen werden“, schreibt Subran im Gastbeitrag – und erklärt auch, welche Weichen jetzt gestellt werden müssen.
München – „Das Schlimmste kommt erst noch.“ Selten klang der IWF in seinem Wirtschaftsausblick pessimistischer als in diesem Oktober. Ist diese Schwarzmalerei gerechtfertigt? Die kurze Antwort lautet: leider ja. Denn die derzeitige Lage zeichnet sich durch eine Besonderheit aus: Alle drei großen Wirtschaftsräume – USA, China und Europa – befinden sich gleichzeitig in der Krise – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Inflation frisst sich ins Preisgefüge
In Europa stehen die russische Invasion der Ukraine und die daraus folgende Energiekrise an erster Stelle: Explodierende Energiepreise treiben die Inflation auf immer neue Höhen und „fressen“ sich in das gesamte Preisgefüge hinein. Die Folge sind fallende Realeinkommen und Unternehmensgewinne, mit den entsprechenden Konsequenzen für Konsum, Produktion und Investitionen. Die restriktive Geldpolitik zur Befestigung der Inflationserwartungen ist in dieser Situation zwar eher kontraproduktiv, aber ohne Alternative.
Stimme der Ökonomen
Klimawandel, Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg: Wohl selten zuvor war das Interesse an Wirtschaft so groß wie jetzt. Das gilt für aktuelle Nachrichten, aber auch für ganz grundsätzliche Fragen: Wie passen die milliarden-schweren Corona-Hilfen und die Schuldenbremse zusammen? Was können wir gegen die Klimakrise tun, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit aufs Spiel zu setzen? Wie sichern wir unsere Rente? Und wie erwirtschaften wir den Wohlstand von morgen?
In unserer neuen Reihe Stimme der Ökonomen* liefern Deutschlands führende Wirtschaftswissenschaftler in Gastbeiträgen Einschätzungen, Einblicke und Studien-Ergebnisse zu den wichtigsten Themen der Wirtschaft – tiefgründig, kompetent und meinungsstark.
Hausgemachte Probleme in China
China wiederum ist vom Krieg in der Ukraine kaum direkt betroffen (und profitiert eher sogar von billigen Energielieferungen aus Russland). Die Probleme sind hier hausgemacht, zwei Punkte sind besonders hervorzuheben: Die strikte Zero-Covid-Politik mit ihren wiederkehrenden Lockdowns, die ganze Wirtschaftsregionen zum Stillstand verdammen und die Stimmung im Land drücken, und die Schwäche des (riesigen) Immobiliensektors, die sich der erratischen Wirtschaftspolitik verdankt, die erst die Überhitzung zuließ, um dann brutal auf die Bremse zu treten. Wobei sich dieses Muster nicht nur im Immobilienmarkt zeigt, sondern Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels in der chinesischen Politik ist: Die Interessen der Partei haben (wieder) Vorrang vor Wachstum und Wohlstand.
Auch die USA haben vornehmlich mit einer selbstverschuldeten Krise zu kämpfen. Die schlecht getimten und überdimensionierten Fiskalpakete während und kurz nach der Pandemie haben die Inflation angefacht. Dies hat – etwas verspätet – die amerikanische Notenbank auf den Plan gerufen, die nun mit kräftigen Zinssteigerungen versucht, den Geist der Inflation wieder in die Flasche zu bekommen. Die damit einhergehende Verschärfung der Finanzierungsbedingungen zwingt Unternehmen wie Haushalte zu Ausgabenkürzungen und führt die Wirtschaft geradewegs in die Rezession. Nirgendwo ist dies klarer zu sehen als auf dem US-Häusermarkt, der nahtlos vom Corona-bedingten Höhenflug in den freien Fall übergegangen ist.
Deutschland steuert auf eine Rezession zu
Vor diesem Hintergrund der synchronen Wirtschaftsschwäche sind wir bei Allianz Research sogar noch etwas pessimistischer in unserer Prognose für 2023 als der IWF. Für Deutschland erwarten wir beispielsweise einen Wachstumsrückgang von 1,3 Prozent (IWF: -0,3 Prozent); und auch für die USA erwarten wir einen Einbruch der Wirtschaftsleistung von -0,7 Prozent (IWF: +1,0 Prozent). (siehe Tabelle)
2023 verspricht also tatsächlich ein „schlimmes“ Jahr zu werden. Zwei Aspekte sollten dabei allerdings nicht übersehen werden. Zum einen erwarten wir – wie auch der IWF – im nächsten Jahr ein wenn auch geringes, so doch positives Wachstum der Weltwirtschaft. Dies war 2009 (Globale Finanzkrise) und 2020 (Covid-19) anders, in beiden Jahren ist die Weltwirtschaft geschrumpft. Zum anderen gilt auch in dieser dunklen Stunde: „Wo aber Gefahr ist, wächst auch das Rettende“ (Hölderlin). Dies lässt sich in allen drei großen Wirtschaftsräume erkennen.
USA: Scheitelpunkt der Inflation womöglich bereits überschritten
In den USA scheint der Scheitelpunkt der Inflation bereits überschritten. Der Arbeitsmarkt zeigt sich nach wie vor robust. Vor allem aber haben die Midterm-Wahlen alle jene Lügen gestraft, die bereits das Ende der amerikanischen Demokratie ausgerufen hatten. Nicht alle Sorgen sind in dieser Hinsicht vertrieben, aber der Blick nach vorne – insbesondere auf die Wahl 2024 – ist wieder etwas zuversichtlicher. Dies ist nicht zuletzt für die Fiskalpolitik von Bedeutung, wo eine unversöhnliche Auseinandersetzung um die Schuldenobergrenze zu einer echten Belastungsprobe für die Wirtschaft zu werden drohte.
Auch in China gibt es erste Anzeichen für mehr Pragmatismus. Dies gilt vor allem für die Zero-Covid-Politik, wo die jetzt verkündeten „Erleichterungen“ zwar keinen wirklichen Politikwechsel darstellen, aber zumindest die Tür für weitere, substantielle Schritte im nächsten Jahr öffnen. In diese Richtung geht auch die vorsichtige Annäherung an die USA und das leichte Abrücken von Russland, wie sie auf dem jüngsten G20-Gipfel in Bali zu beobachten waren.
Wird 2023 ein verlorenes Jahr in Europa?
Und Europa? Vorerst helfen der milde Winter und volle Gasspeicher. Auch die großzügigen Hilfsprogramme können zumindest kurzfristig den Preisschock dämpfen: Allerdings ist kaum davon auszugehen, dass die Kaufkraftverluste der Haushalte und die Gewinneinbußen der Unternehmen vollständig ausgeglichen werden können. Auf mittlere Sicht ist es daher auch weitaus drängender, die Energiekrise als Chance zu begreifen: Anstatt von einer drohenden „De-Industrialisierung“ zu reden – der es sich mit immer neuen, milliardenschweren Subventionen entgegenzustellen gilt –, ist eine zukunftsgerichtete Politik erforderlich.
Denn das einzige, was an der gegenwärtigen Krise nicht „schlimm“ ist, ist ihr Zeitpunkt: Europa und Deutschland stehen an der Schwelle zum Übergang in eine „grüne“ Industrie. Das heißt: Die Unternehmen haben eine Alternative, sie können wählen zwischen der Flucht ins energie-billige Ausland – oder der Flucht nach vorne, in die Elektrifizierung der Produktionsprozesse und in den Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft. Es wird entscheidend darauf ankommen, letzteres durch kluge Investitionshilfen zu unterstützen. Die Zeit und Mittel, die derzeit für die Gaspreisbremse aufgewendet werden, wären für eine zukunftsgerichtete Investitionspolitik weitaus besser angelegt. Denn eins ist klar: Auch die smarteste Energiepreisbremse wird den Industriestandort Deutschland nicht retten, sie kann höchstens Zeit kaufen, die die Unternehmen für die notwendige grüne Transformation nutzen müssen.
Weichen für Wachstum stellen
Schauen wir also über 2023 hinaus. Das nächste Jahr dürfte für viele Haushalte und Unternehmen in wirtschaftlicher Hinsicht tatsächlich ein Jahr zum Vergessen werden. Entscheidend ist aber, dass 2023 kein verlorenes Jahr wird, sondern das Jahr, in dem wir als Gesellschaft im Angesicht der Energiekrise die Weichen für zukünftiges Wachstum stellen. Denn auch wenn uns das Schlimmste noch bevorsteht, gilt dennoch: Das Beste kommt zum Schluss.
Zum Autor: Ludovic Subran ist Chef-Volkswirt der Allianz SE und von Allianz Trade/Euler Hermes. Vor seinem Eintritt in die Allianz Gruppe arbeitete er für renommierte Institutionen wie das französische Finanzministerium, die Vereinten Nationen und die Weltbank. Er unterrichtet außerdem Wirtschaftswissenschaften an der HEC Business School.